Im Jahr 2006 wurde von Frankreich die zwischenstaatliche Initiative Europäisches Kulturerbe-Siegel (Label Patrimoine Européen) ins Leben gerufenen. Fünf Jahre später, 2011 wandelte die Europäische Kommission diese Initiative in eine förmliche Maßnahme der Europäischen Union um, innerhalb der mittlerweile 48 Stätten ausgezeichnet wurden. Darüber hinaus ist auch mit dem Europäischen Kul-turerbejahr 2018, das unter dem Motto „Sharing Heritage“ stand, die Aufmerksamkeit, Sensibilität und das Bewusstsein für das gemeinsame europäische Erbe deutlich gewachsen. In der kleinen schwäbischen Gemeinde Kammlach fördert nun der Freistaat Bayern die Instandsetzung einer Brücke, die Schauplatz von Auseinandersetzungen zwischen republikanischen Franzosen und königstreuen Eskadronen im Dienst der Heere der Habsburger im Zusammenhang der Koalitionskriege von 1796 wurde. Die Gemeinde selbst hatte in vielfältiger Weise an die Ereignisse erinnert: durch Ge-denksteine und Erinnerungstafeln, die im Verlauf der letzten beiden Jahrhunderte auf den Weg ge-bracht wurden.
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Die Instandsetzung der Brücke steht vor einem weiteren baukulturellen Hintergrund. Die Bundesstiftung Baukultur zeigt bis zum November 2022 die Ausstellung „Schön hier. Architektur auf dem Land“, mit der das Interesse an qualitätsvoller Architektur im ländlichen Raum geweckt werden soll.1 Der denkmalgeschützte Bestand an Gebäuden in ländlichen Regionen beschränkt sich in der Regel auf Kirchen, Kapellen und Friedhöfe; andere Zeugnisse historischer Ereignisse gelangen nur selten in den Blick von Denkmalpflegern und verantwortungsvollen Architekten. Wie groß der Wunsch nach Erhaltung solcher Bauten ist, zeigt das Engagement der Gemeinde Kammlach, die – neben dem Freistaat Bayern – beträchtliche Mittel zur Sanierung der Brücke bereitstellt.
Die Brücke in Kammlach wurde bereits 1979 in die bayerische Denkmalliste aufgenommen, nachdem 1973 das erste Denkmalschutzgesetz des Landes in Kraft getreten war. An der früheren Fernstraße von Mindelheim ins westlich benachbarte Memmingen gelegen, ist der Bau eine Bogenbrücke, die aus Ziegeln, Nagelfluh- und Tuffsteinquadern im 18. Jahrhundert errichtet und im Laufe der Zeit im-mer wieder ausgebessert wurde. Im Zuge der Instandsetzung sollen die Oberflächen der Brücke gereinigt und schädigender Bewuchs entfernt werden. Darüber hinaus sind zahlreiche Fugen des Baus zu reparieren, Risse zu verpressen; das Mauerwerk muss teilweise von Salzeinlagen befreit werden, die Brüstungen sollen neu aufgemauert werden.
Geht man auf die Suche nach Erinnerungsorten an die Auseinandersetzungen von Kammlach, wird sehr schnell deutlich, wie sich diese Ereignisse in die Region eingeschrieben haben und zu einem Erinnerungsnetz zusammenwachsen. In der Pfarrkirche wurde 1836 eine in französischer und deutscher Sprache gefasste Gedenktafel angebracht, die zu den Ereignissen selbst und ihrem in der fran-zösischen Geschichte gut bekannten Vertreter königstreuer Adelsfamilien führt. Louis-Joseph, 8. Prince de Condé (1736-1818) hatte nach seiner Flucht aus dem revolutionären Frankreich in der „Armee der Emigranten“ (Armée des émigrés) einen neuen Wirkungsort gefunden und gründete nach deren Auflösung die „Armee der Condeer“ (Armée de Condé).2
Die Armee, geführt auch von seinem Sohn, Louis VI. Henri de Bourbon-Condé, kämpfte 1796 in Schwaben gegen die vordringen-den französischen Truppen an der Seite der Habsburger, während Napoleon selbst alle Konzentration auf den Feldzug nach Italien legte, der ihm große Popularität einbrachte. In der Nacht des 13. August lieferten sich französisch-republikanische Soldaten und die „Condéer“ eine Schlacht, in der 1.500 der Kämpfenden getötet oder verwundet wurden. Die Geschichtsschreibung ist mit der Zahl der an der Schlacht Beteiligten offensichtlich großzügig verfahren, wie sich später zeigen wird.
Interessant ist an den weiteren Erinnerungszeichen, aus welchem Blickwinkel die Ereignisse betrachtet werden. In der Kirche erinnert und mahnt die Gedenktafel aus dem Jahr 1836 an die Gefallenen auf beiden Seiten, genannt werden als Initiatoren eines jährlichen Gedenktages ein Angehöriger der Adelsfamilie Rochefoucauld, der unter dem Prince de Condé gedient hatte, ein nunmehr in bayerischen Diensten stehender Baron du Colonge, die Schwiegersöhne des in der Schlacht gefallenen Claude-Marie du Chilleaus sowie die Witwe des Marquis du Goulet.
Eine offizielle, behördlich unterstützte Erinnerungstafel war 30 Jahre zuvor an der Josefskapelle am Ortsausgang nach Mindelheim angebracht worden. 1855 spricht diese Tafel von der Niederlage der Condéer und verwendet jene Zahlen, die bis heute die Geschichtsschreibung dominieren.3
Auf beiden Gedenktafeln, in der Kirche und an der Kapelle, wird von den „französischen Condéern“ gesprochen. Bei genauerem Hinsehen erweist sich die Armée de Condé als ein buntgemischtes Heer, dem nicht nur emigrierte französische Adelige, sondern auch Hohenloher, Schweizer, Husaren, ge-worbene Soldaten aus aller Herren Ländern angehörten. Von den Habsburgern und Preußen mit Misstrauen beobachtet, stellten sie sich nach dem Ende des Ersten Koalitionskrieges in den Dienst Russlands, um 1801 als Heer gänzlich aufgelöst zu werden.
Die Kammlacher Gedenktafel an der Josefskapelle ist grundsätzlich von merkwürdigem Charakter: Sie erinnert explizit an eine Niederlage und nennt die Namen von wichtigen Gefallenen der Unterlegenen. Kurz vor der Jahrhundertwende wird diese Lesart entschieden umgedeutet: Nun ist die Kammlacher Schlacht ein Kampf, der das Leben zahlreicher Soldaten und Offiziere kostete, aber unent-schieden ausgegangen sei.4 Heinrich Leher, heimatkundlich und historisch interessierter Publizist und Gründer der Zeitschrift „Das Bayerland“, gedenkt in seinem umfangreichen Artikel von 1896 gleichzeitig den „Männern, die hier für den Monarchismus starben“.5Im 20. Jahrhundert wird es ruhig um die Schlacht von Kammlach. Erst 1976 wird erneut an die Ereig-nisse mit einem neuen Gedenkzeichen erinnert. Zu Beginn der fünfziger Jahre war ein kleines Ge-denkkreuz an der Josefkapelle entfernt worden. Im kleeblattförmigen Kopf des neuen Gedenksteins stehen sich rechts drei Lilien als Zeichen der Armée des émigrées und links ein Hahnenadler als Zeichen der republikanischen Franzosen gegenüber. Es wäre aufschlussreich zu wissen, wie die Wahl insbesondere auf den Hahnenadler gefallen ist. Nach der französischen Revolution wurden Embleme mit Bezug zur Monarchie entfernt, erst nach dem 18. Brumaire des Louis Bonaparte, dem Staats-streich am 9. November 1799, fand ein goldener Adler im römischen Stil, Donnerkeile und Blitze in seinen Klauen haltend, Eingang in das Wappen der ersten französischen Republik. Napoleon war von nun an als Erster Konsul Alleinherrscher.
Das Netz der Erinnerungsorte und Erinnerungszeichen um die Schlacht von Kammlach, von denen hier nur einige angedeutet wurden, erzählt von den Ereignissen und ganz besonders von ihren vielfältigen Lesarten im Laufe der vergangenen beiden Jahrhunderte. Spuren der Auseinandersetzungen lassen sich bis nach Biberach und weit im benachbarten Baden-Württemberg finden. Sie reichen bis nach Chantilly, dem Sitz des Hauses Bourbon-Condé, wo eben jener Louis-Joseph, 8. Prince de Condé, lange vor der Revolution den Garten im englischen Stil umgestalten ließ. In diesen Orten und Quer-verbindungen findet europäische Geschichte zahlreiche Zeitspeicher, die darauf warten, dechiffriert und kontextualisiert zu werden. Sich diesen Orten grenzüberschreitend zu nähern, verspricht kom-plexe Einsichten und wirft Fragen auch ganz aktueller Art auf. Orte ohne Geschichte erzählen nur wenig und verlieren das Potential, zu Identifikationsräumen und Begegnungsräumen zu werden. Besonders kleine und kleinere Denkmale, die erst als Netzwerk verständlich werden, verdienen Auf-merksamkeit und Interesse.
- Vgl. dazu die Website des Deutschen Architekturmuseums Frankfurt am Main : https://dam-online.de/veranstaltung/schoen-hier/ ↩
- Vgl. dazu Karl Walter, Wir blicken zurück, Kammlach 1985 sowie https://de.wikipedia.org/wiki/Armee_der_Emigranten#Arm%C3%A9e_de_Cond%C3%A9_(1791%E2%80%931801). ↩
- Eine genauere Untersuchung der Vorgänge und kritische Betrachtung der vorhandenen schriftlichen Quellen steht bisher aus. ↩
- Heinrich Leher, Das Grab der Condéer, in: „Das Bayerland. Illustrierte Wochenschrift für Bayerns Land und Volk“, 1896. Die Zeitschrift erschien von 1889 bis 1990. ↩
- Siehe Walter 1985, S. 16. ↩